Potosí

20.06.2023    23 Minuten     0 Kommentare


Nachdem wir uns nach unserer 3-tägigen Jeep-Tour durch den Süden Boliviens in Uyuni für ein paar Tage entspannt haben, ging es mit dem Bus weiter Richtung Nordosten zur 200 km entfernten Bergbaustadt Potosí. Diese liegt ebenfalls in der Hochebene des Altiplanos auf 4000 Hm und ist damit eine der höchstgelegensten Großstädte der Welt. Die Landschaft während der Fahrt war steppenartig, mit wasserfreien Canyons und wenig Gestrüpp.

Als wir Potosí erreicht haben, waren wir vom Lärm, den schmalen Straßen und dem starken, smogreichen Autoverkehr total übermannt. Die Straßen waren voller Menschen, die von A nach B wollten. Auf den Bordsteinen saßen Frauen, die Lebensmittel oder farbenfrohe gestrickte Sachen verkauften. Dabei riefen sie lauthals, welche Produkte für wie viel Geld sie verkauften. Auf dem Rücken hatten viele Frauen ein buntes Tuch umhängen, aus dem meistens ein kleines Baby oder Kleinkind hinaus spiekte.

Wir gingen mit unseren riesigen Rucksäcken durch die turbulente Stadt. Bei jedem Schritt mussten wir aufpassen, dass wir nicht in ein tiefes Loch traten oder über irgendetwas hinüber fielen oder mit unseren Rucksäcken oben an einem Stand hängen blieben. Es war aufregend und zeitgleich auch anstrengend, denn es ging nur bergauf, bergauf, bergauf, sodass uns auf dieser Höhe ständig die Luft wegblieb. Total geflasht von den vielen Eindrücken kamen wir in unserem Hostel an.

Stadtrundgang

Bei einem Stadtrundgang mit einer Einheimischen erfuhren wir viel über die Geschichte. Aufgrund des angrenzenden Berges, welcher das größte Silbererzvorkommen der Weltgeschichte besaß und daher Cerro Rico oder Reicher Berg genannt wurde, war Potosí im 17 Jahrhundert eine der größten Städte der Welt, größer als London oder Paris. Es wird geschätzt, dass während der spanischen Kolonialherrschaft so viel Silber in Potosí abgebaut und nach Spanien transportiert wurde, dass theoretisch auch eine Brücke aus reinem Silber zwischen den beiden Kontinenten hätte gebaut werden können. Tragischerweise hat der Berg dabei so viele Menschen verschlungen, dass deren Knochen als Baumaterial auch für diese theoretische Brücke gereicht hätten. Neben Silber wurde und wird auch heute noch Zinn, Kupfer und diverse andere Erze abgebaut. Auch ein großes Eisenerzvorkommen soll es im Berg geben. Dieses wird aber erst in den zukünftigen Generationen abgebaut.

Unser Spaziergang fand an einem besonderen Tag statt, denn am 21. Juni, also der Wintersonnenwende der südlichen Hemisphäre, wird Willkakuti gefeiert, das Neujahrsfest der Aymara im südamerikanischen Andenhochland. Die Aymara ist eine der größten der vielen in Bolivien lebenden ethnischen Gruppen. Boliviens Vielfalt spiegelt sich im offiziellen Namen des Landes wider: der bolivianische Vielvölkerstaat, eine weltweit einzigartige Staatsform. Aymara ist nur eine der 36 offiziellen Amtssprachen des Landes.

Willakakuti ist das Fest der Wiederkehr der Sonne, das dieses Jahr zum 5531. Mal gefeiert wurde. Seit der Frühzeit wird Willakakuti jedes Jahr von rituellen Zeremonien begleitet. Die spanischen Eroberer verboten es im Jahr 1509 und führten den gregorianischen Kalender ein. Ironischerweise bedeutete der neu eingeführte, vermeintlich fortschrittliche Kalender für die einheimische Bevölkerung einen Rückschritt von etwa 3500 Jahren.

Willakakutti wird seit einiger Zeit wieder gefeiert, wobei das wichtigste Fest in Tiahuanaco stattfindet: In einer alten Aymara-Tempelstadt auf fast 4.000 Metern Höhe versammeln sich jedes Jahr Tausende von Menschen in der eisigen Kälte, um den Sonnenaufgang zu erwarten, dessen erste Strahlen durch das „Tor der Sonne“, den Kalasasaya-Tempel, fallen.

Im Juni 2009 beschloss die bolivianische Regierung unter Präsident Evo Morales, der aus dem Volk der Aymara stammt, den 21. Juni zum offiziellen Feiertag zu erklären, so dass es seitdem in Bolivien zwei Neujahrstage gibt: den 1. Januar nach dem gregorianischen Kalender und den 21. Juni nach der Weltanschauung der Andenvölker. Für die Regierung Morales war dieses Dekret ein weiterer Schritt der Befreiung Boliviens von der Kolonialzeit. Zudem wurde damit die Deklaration der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker umgesetzt.

Das Stadtbild ist geprägt im Kolonialstil aus der Zeit des 17. und 18. Jahrhundert. Gepflasterte Straßen, barocke Kirchen und Steinbögen erinnern uns an europäische Städte. Seit 1987 gehören die kolonialen Bauten dem UNESCO Weltkulturerben an. Die Häuser sind durch ihre Bauart ganztägig kühl. Generell ist in Potosí eher von einem Tagesklima als einem Jahresklima zu sprechen. Das bedeutet, dass die Temperaturen zwischen Tag und Nacht stärker schwanken als zwischen Sommer und Winter. Dies bestätigte uns auch eine Einheimische, die gerade im Schatten ihres Hauses an der Straße Eis verkaufte. Sie hat das Eis aus Süßkartoffeln hergestellt. Dazu bereitete sie die Grundmasse vor und legt diese über Nacht auf dem Dachboden aus, wo die Masse zu Eis gefror. Am nächsten Morgen nahm sie dann das gefrorene Eis und verkaufte es an der Straße, ohne ein Kühlsystem dabei zu haben.

Da die Spanier auf dieser Höhe in ihren Häusern sehr gefroren haben, haben sie Holzbalkone gebaut, die heute noch das Stadtbild prägen. Die Balkone heizen sich tagsüber durch die Sonne auf, sodass die Spanier einen warmen Raum in ihrer Wohnung hatten. Oft sieht man direkt gegenüber der verzierten Holzbalkone, schmale Eisenbalkone, welche von den Franzosen gebaut wurden. Eine weitere Baumaßnahme der Spanier war es die Straßen extra schmal zu bauen. Dies verhinderte, dass die Kälte nicht so stark in die Stadt zog. Heute führen die schmalen Straßen zu einem großen Verkehrschaos. Es gibt nur Einbahnstraßen, keine Parkmöglichkeiten und die Fußgängerwege sind etwa 10 cm breit, sodass alle auf der Straße gehen müssen und die Autos daher viel hupen. Generell haben Fußgänger in Bolivien schlechte Karten. Es gibt in vielen Städten weder Fußgängerampeln noch Fußgängerwege. Um den Verkehr für die Fußgänger sicherer zu machen, gibt es die Zebras. Dies sind kostümierte Jugendliche, meistens Waisenkinder, die sich etwas Geld dazu verdienen, um ihr Studium zu finanzieren.

Bevor die Tour endete, gingen wir zum Mittagessen noch in ein kleines Restaurant, wo wir Salteñas gegessen haben. Diese sind mit Gehacktes und Zwiebeln gefüllte Teigtaschen und erinnern uns geschmacklich sehr an Empanadas Piño, die wir aus Chile kennen. Die Salteñas werden frisch zubereitet und in einem großen Ofen gebacken.

Casa Real de la Moneda

Um nach unserem Stadtrundgang noch mehr von Potosí und seiner Geschichte rund um den Bergbau zu erfahren, sind wir in das Münzmuseum gegangen. Dies war eines der besten Museen, in denen wir jemals waren und wir waren schon in sehr vielen. Die Führung war fesselnd und super informativ:

Bereits zu Inkazeiten wurde am Cerro Rico Silber abgebaut. Auch die Spanier wollten vom Reichtum des Berges profitieren und gründeten 1545 die Siedlung Potosí, welche bereits nach wenigen Jahren zur Reichsstadt heranwuchs. Das abgebaute Silber wurde zur Haupteinnahmequelle der spanischen Silbermünzen. Um den hohen Bedarf an Silbermünzen nachzukommen, wurde 1572 das Casa Real de la Moneda, das Königliche Münzhaus, gebaut. Das Casa Real de la Moneda war ein wichtiges Zentrum des spanischen Kolonialhandels in Südamerika. Es wurden mit Einführung des Münzhauses neben den reinen Silberbarren nun auch direkt Silbermünzen über den Schiffsverkehr nach Spanien gebracht.

Um Arbeiter für die Minen zu bekommen, wurde im ganzen Land Propaganda betrieben, dass gute Löhne bezahlt werden. Dies lockte viele Menschen nach Potosí. Nachdem die Menschen aber sahen, wie schwer und unter welchen extrem schlechten Bedingungen gearbeitet wurde und auch nicht der entsprechende Lohn gezahlt wurde, sind viele Arbeiter wieder gegangen. Dies sorgte für viel Aufregung in Spanien, wodurch der spanische König Druck ausübte. Es wurden Menschen aus Afrika als Sklaven nach Potosí verschifft, um diese in den Minen arbeiten zu lassen.

Die afrikanisch-stämmigen Zwangsarbeiter waren jedoch aus mehreren Gründen für die ausgewählte Arbeit nicht geeignet. Sie waren nicht in der Lage, sich an die dünne Hochgebirgsluft anzupassen, ihre weit geöffneten Augen trockneten bei dem windigen, kalten Wetter aus und so fielen sie Infektionen zum Opfer. Dies führte zum Einstellen der Sklavenlieferungen aus Afrika. Die überlebenden Afrikaner wurden in der Silbererzverarbeitung oder auf den tiefer gelegenen Kokaplantagen eingesetzt. Von nun an setzten die Spanier die Einheimischen als Zwangsarbeiter in den Minen ein. Auf königlichen Beschluss hin wurden nur Arbeiter aus Ortschaften in Höhenlagen über 3000 m einberufen, um keine Probleme mit der dünnen Luft zu bekommen.

Um das Silbererz verarbeiten zu können, wurde Quecksilber eingesetzt. Dies löste das Silber aus dem Gestein. Die Menschen litten aufgrund der toxischen Eigenschaften des Quecksilbers an Haarausfall und diversen Entzündungen wie z.B. der Haut oder der Zähne. Sowohl bei dem Bergabbau des Silbererzes als auch bei der anschließenden Verarbeitung starben mehrere Millionen Menschen unter katastrophalen Arbeitsbedingungen.

Nachdem das Silber aus dem Gestein gelöst wurde, wurde dieses geschmolzen. Das Silber war extrem rein und dadurch auch weich. Bis zu mehreren Metern dick war die Silberader ohne Verunreinigungen gewesen. Das Silber wurde entweder direkt zu Silberbarren geschmolzen oder zu schmaleren Barren für die Münzproduktion. Über eine Holzpresse, die durch Maultiere angetrieben wurde, wurden die noch warmen Barren in schmale Streifen gepresst. Auch die Maultiere, die unter normalen Bedingungen 15-20 Jahre alt werden, starben aufgrund der harten Arbeit bereits nach 2-3 Monaten. Pferde überlebten die Arbeit wohl nur 2-3 Wochen. Die hier einheimischen Lamas können zwar schwere Lasten tragen, aber keine Maschinen ziehen. Daher wurde diese Arbeit von Maultieren durchgeführt. Die Maultiere trieben die unterschiedlich dicken Pressen an. Durch die letzte Pressung wurde die Münzdicke hergestellt. Dieser Vorgang musste sehr schnell erfolgen, damit das Silber noch warm ist, um dieses im Anschluss ausstanzen zu können. Im letzten Schritt erfolgte dann die Stempelung der Münze.

Die fertigen Münzen und die Barren wurden mit dem Schiff nach Spanien transportiert.

Allerdings erreichten nicht alle Schiffe ihr Ziel. Das vielleicht berühmteste Beispiel dafür ist das Transportschiff Nuestra Señora de Atocha, welches zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert regelmäßig zwischen Europa und Mittel- bzw. Südamerika verkehrte. Im September 1622 geriet es jedoch in einen Wirbelsturm und sank vor der Küste Floridas, wobei es seine reiche Fracht mit sich in die Tiefe nahm. Erst mehr als 350 Jahre später, im Jahr 1985, wurde das Wrack von Mel Fisher, einem amerikanischen Schatzsucher, entdeckt, der zum Besitzer des wertvollsten Schatzes in der Weltgeschichte wurde. Das Schiffswrack mit einem geschätzten Wert von 500 Millionen US-Dollar wurde 2014 auch in das Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen.

Aufgrund der Reinheit des Silbers waren die Silbermünzen weich gewesen. Dies ermöglichte, dass von den größeren Silbermünzen kleine Silberstücke abgebrochen wurden und damit bezahlt wurde, wodurch ein Münzenchaos in Spanien entstanden ist. Der König hat daher veranlasst, dass das reine Silber mit anderen Metallen gemischt werden soll. Dies sorgte für eine Härtung der Silbermünzen, was das Abbrechen von Stücken verhinderte. In Spanien wurde ab da an die Reinheit der Silbermünze dadurch ermittelt, dass mit den Zähnen auf die Münze gebissen wurde. War die Münze weich, bestand diese aus reinem Silber und andernfalls aus einer Legierung.

Damit der König den Überblick darüber behalten konnte, wo und wie viele Münzen hergestellt wurden, mussten die Münzstätten eindeutig identifiziert werden. So entstand das Potosi-Zeichen, das aus den übereinander gestapelten Buchstaben „PTSI“ bestand, welches auf die in Potosí hergestellten Münzen gestempelt wurde. Die Buchstabenkombination ergab ein $-Zeichen mit einem Strich in der Mitte. Eine mögliche Theorie besagt, dass dies der Ursprung des späteren Dollarzeichens ist.

Im Jahr 1773 wurde das Münzhaus Casa de la Moneda um einen Neubau erweitert. In diesem befindet sich das heutige Münzmuseum. Mit der Unabhängigkeit von Spanien und der Gründung der Republik Bolivien in 1825 kam immer mehr der Wunsch nach einer eigenen Währung auf, sodass 1827 erstmals bolivianische Münzen in der Casa de la Moneda geprägt wurden. 1869 wurde der Betrieb auf Dampfmaschinen und 1909 auf elektronische Motoren umgestellt. Aufgrund des steigenden Strompreises konnte das Münzhaus nicht weiter betrieben werden, sodass 1953 die Münzherstellung nach 500 Jahren beendet wurde. Heute werden die bolivianischen Münzen in Frankreich und England hergestellt und bestehen nicht mehr aus Silber sondern aus Nickel.

Besichtigung der Silbermine

Lange haben wir hin und her überlegt, ob wir die aktive Erzmine besichtigen wollen oder nicht. Grund dafür sind die noch heute extrem schlechten Arbeitsbedingungen. Neben Männern arbeiten noch heute Kinder in der Mine. Das Alter der jüngsten Kinder wird auf 10 Jahre geschätzt, sicherlich gibt es auch hier eine Dunkelziffer. Um in der Mine arbeiten zu dürfen, müssen die Arbeiter sich in einer Mitgliedschaft einkaufen. Alle Arbeitsutensilien wie Kleidung, Mundschutz, Dynamit für die Sprengung, Kokalätter gegen die Höhenkrankheit etc. müssen sie dabei selbst finanzieren. Die Mitnahme von Erzen, so klein die Steine auch sein mögen, ist strengstens verboten. Sollte es dennoch vorkommen, wird gesagt, dass die Menschen Unglück haben werden. Und da die Bolivianer sehr religiös und abergläubisch sind, halten diese sich auch an das Verbot.

Cerro Rico
Cerro Rico

Wir haben uns viel über die Tour beraten lassen und haben uns schlussendlich für eine Besichtigung entschieden. Grund dafür war, dass wir zu Beginn der Tour auf einen Markt für die Arbeiter gegangen sind. Dort konnte man sämtliche Utensilien für die Arbeiter, von Kleidung, über Werkzeuge, Getränke bis hin zu Dynamit, welches tatsächlich frei verfügbar ist, kaufen. Mit diesen Einkäufen können die Arbeiter unterstützt werden. An dieser Stelle sollte man aber weiterhin kritisch darüber nachdenken, dass so ein Einkauf erst gar nicht sein müsste, wenn die Regierung entsprechende Arbeitsbedingungen bieten würde.

Nachdem jeder unserer Gruppenmitglieder unterschiedliche Sachen eingekauft hat, fuhren wir hoch auf den Berg zur Mine. Die Anspannung im Bus war groß, denn wir haben alle von den extremen Bedingungen gehört und wussten selber nicht, wie die Dunkelheit, die Hitze, die Enge und der geringe Sauerstoffgehalt auf unseren Körper und unsere Psyche wirken wird. Unsere Gruppe bestand aus sechs jungen Reisenden, einem Guide und zwei Begleiterinnen, die sehr wichtig sind. Sollte es jemandem schlecht gehen, so kann eine Begleiterin mit der entsprechenden Person wieder umdrehen.

Wir bekamen von unserem Guide Kokablätter angeboten. Diese werden im Mund gekaut und mit der Zunge zu einem Ball geformt, der in die Wange gedrückt wird. Dieser Ball kann 3-4 Stunden im Mund behalten werden. Die Kokablätter sind gut gegen die Höhenkrankheit, da sie die Sauerstoffaufnahme fördern. Damit die Wirkung besser eintritt, wurde uns noch eine pechschwarze Paste, die aus Asche besteht, gegeben. Geschmeckt hat die Paste nach Pfefferminze, womit wir überhaupt nicht gerechnet haben. Aber irgendwie muss man ja Asche schmackhaft machen 😅. Eine Nebenwirkung der Kokablätter ist, dass die Wange etwas taub werden kann. Bei uns ist natürlich sofort sowohl die Wange, als auch die Zunge komplett taub geworden bei gerade mal 5-6 Blättern, was etwas einer Erbsengröße entspricht. Die Einheimischen laufen mit einem golfballgroßem Kokablätter-Ball im Mund in der gesamten Stadt herum 😅. Wir Anfänger!

In den südamerikanischen Ländern werden die Kokasträuche seit Jahrtausenden angebaut und verwendet, unter anderem zur Erleichterung der Arbeitsbedingungen im Bergbau. Die Blätter des Kokastrauchs enthalten 0,25-2,25 % des Alkaloids Kokain. Dieses sorgt dafür, dass Hunger, Durst und Müdigkeit verringert werden, zeitgleich erhöht dieses die körperliche Ausdauer der Muskeln. Diese Wirkungen treten aber nur auf, wenn die Blätter zusammen mit einem alkalischen Katalysator gekaut werden. Dazu wird eine aus Asche hergestellte Paste, meist mit Mentholgeschmack, verwendet. Die Einheimischen formen die Blätter im Mund zu Kugeln und kauen sie 3-6 Stunden lang. Dabei kann es zu einem Taubheitsgefühl im Mund kommen, der an einen Besuch beim Zahnarzt erinnert. In der modernen Medizin wird es sogar immer noch als örtliches Betäubungsmittel verwendet.

Der Kokastrauch wächst nur unter besonderen Bedingungen. Sein ideales Klima befindet sich vor allem auf der regenreichen Ostseite der Anden in mittlerer Höhe. Versuche ihn auf anderen Kontinenten anzubauen, waren außer Indonesien und Sri Lanka nicht erfolgreich. Bolivien ist nach wie vor eines der größten Erzeugerländer. Die meisten Plantagen befinden sich nördlich von La Paz in der Region Yungas. Der Anbau, Verkauf und Konsum von Kokablättern, welche extrem reich an Kalzium, Eisen und Vitaminen sind, ist im ganzen Land legal. Auf Märkten oder auf der Straße kann man ein Kilo getrocknete Blätter für weniger als 1 € kaufen. Der aus ihnen hergestellte Tee, der Mate de Coca gehört in jedem Supermarkt zum Basissortiment und wird bei Magenverstimmungen empfohlen. Von 1885 bis 1914 wurde das Extrakt des Kokastrauchs sogar im Erfrischungsgetränk Coca-Cola verwendet.

Die Einfuhr der Blätter und der daraus hergestellten Produkte wie z.B. Tee ist aber heute in alle Länder der Welt illegal und stellt eine Straftat dar. Grund dafür ist, dass aus den Kokablätter ein hochkonzentriertes chemisches Derivat, die Droge Kokain, hergestellt werden kann. In Europa wird Kokain hauptsächlich im Bankensektor als Leistungsdroge konsumiert. Die höchsten Konzentrationen in Abwasserproben wurden unter andern in St. Gallen und London nachgewiesen. Wer Interesse hat, kann sich die NDR-Doku über den Drogenboss von Hamburg, auch bekannt als „Schneekönig“ anschauen.

Wir erreichten gegen 10 Uhr die Mine. Bereits im Vorfeld haben wir Gummistiefel, eine Jacke, eine Hose, einen Helm und eine Stirnlampe bekommen. Wir sahen bereits die ersten mit Staub bedeckten Arbeiter, die mit einer dick aufgeschütteten Lore aus der dunklen Mine herausgeschossen kamen. Die Lore hielt an einem Abhang und wurde dort ausgeschüttet. An diesem Abhang gab es verschiedene Aufteilungen je nach Zusammensetzung des Gesteins. Mehrere Arbeiter verteilten die gerade frisch abgeworfenen Erzsteine auf die einzelnen Abteile. Am Boden des Abhangs befand sich ein LKW, der beladen wurde.

Nach einem Motivationsgespräch mit dem Guide und den zwei Begleiterinnen, welches extrem wichtig ist, um uns mental in die richtige Stimmung zu bringen, ging es also los. Getauft wurden wir auf die „Sexy Lamas“. Positives Denken ist jetzt angesagt! Wir stellten unsere Stirnlampen ein und gingen in das kleine, dunkle Loch und stoßten uns direkt alle nacheinander erstmal die Helme an den flachen Decken an. Die Luft war auf den ersten Meter noch sehr zügig und frisch. Je weiter wir in das Innere hinein gingen und uns damit vom Ausgang entfernten, desto staubiger und wärmer wurde die Luft. Die Gänge bestanden nur aus einem Gleis, welches für beide Richtungen verwendet wurde. Sobald eine Lore angerollt kam, müssten wir in kleine, schmale Einbuchtungen gehen, die alle paar Meter eingebaut wurden. Stellenweise waren diese jedoch so weit auseinander, dass wir zurück rennen mussten. Treffen eine vollbeladene und eine leere Lore aufeinander, wird die leere, aber dennoch schwere Stahllore vom Gleis gekippt und im Anschluss wieder hochgestemmt.

Wir gingen tiefer und tiefer in die immer heißer werdende Mine hinein. Sowohl ein Zeitgefühl als auch ein Entfernungsgefühl ist nicht mehr vorhanden. Auch das Atmen fällt uns immer schwerer. Aufgrund der immer staubiger werdenden Luft mussten wir die Masken aufsetzen. Wir trafen unterwegs Arbeiter, die schweißgetränkt und staubbedeckt zu den kleinen Einbuchtungen kamen, um dort eine kurze Pause zu machen. Schweratmend erzählten sie uns von ihrer harten Arbeit und ihren Zukunftsplänen. Die meisten waren gerade mal 18 Jahre alt. Sie wollen alle nur für eine kurze Zeit dort arbeiten, weil sie selber wissen, wie ungesund die Arbeit ist. Nachdem sie sich einen kleinen finanziellen Puffer aufgebaut haben, wollen sie eine andere Arbeit machen z.B. ein Taxiunternehmen oder einen Laden gründen. Wir überreichten nacheinander unsere Geschenke und gingen weiter.

Eine Dynamitstange hat unser Guide aufgehoben. Er fragte uns, ob wir diese für eine Sprengung verwenden wollen. Wir stimmten alle nickend zu und gingen gebückt zum Ende eines Ganges, wo nur ein kleines Loch zu sehen war. Der Guide erklärte uns, wie die Sprengung ablaufen wird. Zunächst kneteten wir das graue Dynamit und übergaben es dem Guide. Dieser führte die Sprengschnur in das geknetete Dynamit ein. Er erzählte uns dabei, dass die Arbeiter so etwa 6-8 Dynamitköpfe erstellen, die sie dann auf einen gewissen Raum verteilen. Dabei müssen sie stellenweise sogar klettern. Sie haben dann nur wenige Sekunden Zeit, um alle Köpfe anzuzünden und um dann schnellstens aus dem Gefahrenbereich zu verschwinden, was leider nicht immer gelingt.

Wir befanden uns abseits der Arbeiter in einem Bereich, der extra für die Touristen zur Verfügung gestellt wurde. Der Guide steckte das Dynamit durch das Loch, zündete es an und schrie dann lauthals „RUN“. Die Panik packte uns. Ist das jetzt wirklich ernst? Hat er das Dynamit wirklich angezündet? Ach du Sch*** wie viel Zeit haben wir denn jetzt? Und wie soll ich denn bitte in den Gummistiefeln auf dem nassen, unebenen Boden gebückt vor den Holzmasten über uns jetzt so schnell wegrennen? Bitte nicht hinfallen, geht es mir durch den Kopf. Konzentriere dich! Einfach rennen, rennen, rennen… bis der Guide schrie, dass wir weit genug weg sind. Schweratmend und hechelnd stoppten wir. Nur 10 Sekunden, sagte der Guide. Gebannt warteten wir. Nichts passierte. Stille. Nur unser Atem war in der Dunkelheit zu hören. Wir warteten 10, 20, 30 Sekunden und dann PENG. Ein gewaltiger Knall mit einem enormen Luftstoß kam uns aus der Dunkelheit entgegen, gefolgt von einem panischen Aufschrei unsererseits. Wir wussten gar nicht, was wir machen und wie wir reagieren sollten. Alles ging auf einmal so schnell. Unser Körper und unser Geist spielten total verrückt und wussten nicht wie sie mit dieser Schrecksituation umgehen sollten. Wir guckten uns alle mit aufgerissen Augen an und fingen nach ein paar Sekunden laut an zu lachen. Es war ein aus dem tiefsten Inneren heraus brüllendes Lachen, das nach Erlösung gierte. Eine körperliche Reaktion, um unseren Geist zu beruhigen. Und tatsächlich, nach einer gewissen Zeit, gab uns das Lachen die erwünschte Erleichterung. Wir atmeten, soweit es unter den Masken und der staubigen Luft möglich war, tief ein und aus, um auch unseren Puls wieder zu beruhigen. Nach paar Minuten trieb der Guide uns an weiter zu gehen. Nichts lieber als das, ging es mir durch den Kopf. Endlich raus. Wieder atmen. Die Enge und Dunkelheit entfliehen. Mit jedem Schritt freute ich mich mehr und mehr auf das draußen sein.

Dann blieb der Guide stehen und sagte, dass wir zwei Möglichkeiten haben. Entweder gehen wir auf demselben Weg zurück oder wir können von dieser Ebene 1 auf die 70 m tiefer liegende Ebene 2 gehen. Der Weg ist aber steil und eng. Stellenweise müssen wir sogar kriechen und das schlimmste: Es gibt keinen Weg zurück. Wenn wir uns einmal dafür entscheiden, müssen wir den Weg weiter folgen. Bei mir klingelten alle Alarmglocken. Auf gar keinen Fall gehe ich noch einen Zentimeter weiter, rief es sofort in meinem Kopf. Alle guckten sich fragend an. Keiner wollte so recht ja oder nein sagen. Ein Zögern lag in der Luft.

Der Guide stieg hinab in das Loch und sagte, dass wir doch einfach Mal gucken sollen. Ab hier kann man noch umdrehen. Der erste stieg hinab und kam nicht zurück. Wir warteten. Ist er jetzt weiter gegangen? Der Guide rief: der nächste kann kommen. OK, also gehen wir jetzt hinab? Wurde es damit jetzt entschieden? Als zweites ging die Freundin hinunter. Wieder Stille. Das nächste Pärchen stieg hinab. Attila und ich schauten uns mit großen Augen an. Gegenseitig fragten wir uns, ob wir gehen oder mit einer Begleiterin die Mine auf dem uns bereits bekannten Weg rausgehen sollen. Wir fragten uns auch, was passiert, wenn wir da unten einen Panikanfall oder aufgrund der staubigen Luft einen Husten- oder Asthmaanfall bekommen. Es bleibt keine Zeit. Eine Entscheidung muss her. OK. Wir werden gehen.

Attila ging vor. Ich wartete und stieg dann als letzte aus unserer Gruppe in das Loch hinab. Sandig und steil ging es herunter. Attila wartete hockend vor einem kleinen Loch auf mich und sagte, dass wir jetzt vorwärts durch den Tunnel auf dem Bauch kriechen müssen. Auf der anderen Tunnelseite rief eine Frau aus der Gruppe, dass wir das schaffen. Es sind nur ein paar Meter. Attila kroch vorwärtsbeugend in den Tunnel hinein. Ich wartete bis er das Ende erreicht hatte. Dann war ich an der Reihe. Was für ein befremdliches Gefühl vorwärts in einen nach unten gehendem Tunnel zu kriechen ohne zu wissen, was einen auf der anderen Seite erwartet. Ich lag auf dem sandigen Bauch, umgeben von hartem Gestein und fragte mich was ich denn hier zum Teufel mache. OK, OK, OK, nicht nachdenken, einfach kriechen, ging es danach durch meinen Kopf. Wenn es nur so einfach wäre auf dem sandigen Boden. Ich versuchte etwas in Krabbelstellung zu gehen, was aber durch die geringe Höhe kaum möglich war.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam ich halb kriechend, halb krabbelnd keuchend am Tunnelende an. Attila wartete. Keiner der anderen war zu sehen. Ich dachte, das war der schlimmste Teil, kreischte es ungewollt laut aus meinem Mund. Mit Erschrecken musste ich also feststellen, dass es noch weitergeht und ein zurück nun nicht mehr möglich war. Wir kletterten immer weiter hinunter, vorbei an tiefen Löchern direkt neben uns ohne jegliche Sicherung. Wir mussten uns dicht an den Wänden halten, um nicht herunterzufallen. Ich redete mir die ganze Zeit ein, dass ich nur keine Panik bekommen soll, denn man weiß genau, dass niemand hierherkommen kann, um einen rauszuholen. Man ist regelrecht gefangen in diesem steinigen Felsen und nur du selbst schaffst es, dich hier rauszubringen! Ein Panikanfall würde genau das Gegenteil bewirken, geht es mir immer und immer wieder durch den Kopf. OK, Verstand. Bitte rede weiter so auf mich ein! Und dann, nach einer unendlichen Ewigkeit rief der Guide von unten, dass wir es gleich geschafft haben. Nur noch einen steilen, sandigen Abhang, dann kommt die Leiter und damit auch der ebenerdige Boden. Und tatsächlich! Wir haben es geschafft! Wir waren alle wieder vereint und freuten uns aus tiefstem Herzen darüber, dass wir endlich aus diesem Irrwahn herauskommen können.

So gingen wir alle zügigen Schrittes den Gang Richtung Ausgang entgegen. Mit jedem Schritt wurde die Luft kühler und frischer. Noch eine Kurve und dann erstrahlte die Sonne die letzten Meter des Ganges. Aufjubelnd rannten wir schon fast aus dem dunklen, staubigen Gang in die Helligkeit und die damit verbundene Freiheit. Wir strahlten alle über das gesamte Gesicht. Wir haben es geschafft! Wir haben es überlebt, riefen wir dramatisch. Wir gingen weiter und sahen wieder die Arbeiter und mussten erschreckend realisieren, wie gut wir es doch haben, dass wir nicht gezwungen sind in diesen unwirklichen Berg erneut reingehen zu müssen.

Jetzt können wir noch mehr verstehen, wie grausam doch die Arbeitsbescheinigung für die Menschen sind. Noch Tage später habe ich mit starkem Husten aufgrund des Staubes zu kämpfen, obwohl ich eine Maske getragen habe. Selbst die Stimme versagte mir für zwei Tage. Und die Menschen arbeiten hier jeden Tag für 8-10 Stunden unter diesen Bedingungen. Viele Arbeiter sterben bereits im Alter von 45-50 Jahren an den Folgen der Arbeit wie z.B. Staublunge. Für uns ist es viele Tage später immer noch nicht verständlich und auch nicht greifbar, wieso noch zur heutigen Zeit so gearbeitet werden muss, obwohl gesehen wird, welche Auswirkungen diese Arbeit hat? Wieso gibt es keinen Aufstand der Arbeiter für bessere Arbeitsbedingungen? Wieso wird nicht gehandelt? Ich denke, dass diese Tour uns gedanklich noch lange begleiten wird und wir sicherlich mit vielen Menschen in Zukunft noch darüber reden werden, um einfach mehr Menschen auf das Thema aufmerksam zu machen mit der Hoffnung, dass sich etwas ändern wird.

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